Da liegt sie also. Ich fange hinten an. Ihr Unterleib endet mit einem Büschel grober schwarzer Haare, die im letzten Segment angewachsen sind. Gewürfelt scheint er, ihr sonst fein behaarter Unterleib, ein Würfel Veroneser Grüne Erde in der Sonne glänzend, ein Würfel Umbra gebrannt, verschattet, zwei Würfelreihen pro Segment, drei Segmente lang, das vierte verschwindet als Einreiher unter den Flügeln, filigranes Spannwerk, Netz oder Nichts, Streben und Querstreben, ein leiser Glanz, kein Schillern gewagt. Ihrem Rumpf (er ist längs gestreift, dreimal Umbra, viermal Veroneser Grüne Erde, die Flanken haarig auslaufend, Umbra und Grün verwischend) fehlt ein zweites Flügelpaar, statt dessen sitzen die Halteren 1 dort, sie schwingen in der gleichen Frequenz wie die Flügel, aber in der entgegengesetzten Richtung; mit ihnen, so sagt man, kann sie jederzeit ihre Lage im Raum registrieren, einem Raum, der nicht meiner ist, in einer Zeit, die allein Ihre ist -

Ihre Augen. Ein Schimmern, aus Segmenten wabengleich zusammengesetzt. Ommatidien, Chitincornea, Kern, Kristallkegel, Kristallkegelzelle, Nervenfaser, Pigment, Pigmentzelle, Retinulan, Rhabdom, Sehzelle. Ich schau' ihr in die Augen: Licht auf Van-Dyck-Braun, eingelassen in lauteres Gold, eine undurchlässige Oberfläche, die keine Nähe zulässt, obwohl ich nahe heran muss, um sie zu sehen. Und die Luft anhalten. Sehen ohne Atmen, ein einziges Abprallen, kein Werden in der Ordnung zweier Augenpaare. Im Umrunden einer Regenbogenhaut, im Folgen-den-Sprenkeln, im Umschalten und Das-eigene-Spiegelbild-sehen, im Ausweichen auf die Nasenwurzel, ohne die eigenen Augen zu bewegen, in der Rückkehr zu den Farben, grau und grün zum Beispiel, im Denken des Lichts (morgens anders als abends, drinnen anders als draußen, jetzt ist es so) läge ein Vermögen. Den andern sein lassen zu können. Ganz. Genau jetzt. Endlich einfach sein lassen zu können, während man liebt und während man wird -

Sie hat einen elfenbeinschwarzen Streifen auf der Stirn. Er gibt die Öffnung frei, in der ihre Werkzeuge ruhen, Werkzeuge zum Anschließen an ihren Teil der Welt, Mandibeln, Maxillen, Labrum, Labium; das Labium bildet einen Tupfrüssel, aus dem sie Speichel zum Verflüssigen der Nahrung absondert, welche dann durch die beiden rinnendurchzogenen Lippenpolster aufgesaugt wird. Sonderte. Saugte. Als sie noch war. - Verbleiben sechs Beine, drei davon ausgestreckt, drei angewinkelt. Unter allen sechs Füßen sitzen Haftläppchen mit Hafthaaren. Durch ein Sekret, das sie direkt an den Hafthaaren abgibt, entstehen zwischen den Haaren und der jeweiligen Oberfläche Adhäsions- und Kohäsionskräfte. Abgab. Entstanden. Ich packe sie am Flügel, stelle sie aufrecht hin; drei gestreckte Beine heben nun den Unterleib hinten, drei angewinkelte lassen sie vor mir auf die Knie sinken. Beim Aufstellen ist mir ein Bein abgebrochen. Ihr -

Sie steht auf meinem Schreibtisch. Ich habe ein Blatt Papier untergeschoben, damit nichts von ihr verloren geht. Sonnenlicht fällt durchs Fenster, Staub tanzt, ich habe Hunger, es gibt Espresso und Johnny Cash ist bei mir. Aurora borealis / The icy sky at night / Paddles cut the water / In a long and hurried flight 2 (Gitarre: ein Akkord pro Takt). Gil hat mir die Fliege überlassen, er ist fertig mit ihr; vorher war sie bei Yukako. From the white man / To the fields of green / And the homeland / we've never seen -

Gils Atelier befindet sich in den ehemaligen Räumen des Betriebsrats einer Fabrik. An der Tür hängt ein Zettel, auf dem zu lesen steht, wo sich der Betriebsrat jetzt befindet. Dieses Atelier ist übrigens außergewöhnlich ordentlich, das Waschbecken funkelt und blitzt, ein hellblaues Schwammtuch hängt am Siphon darunter und eine Flasche Citrusreiniger steht in der Ecke. Im Nebenraum warten eine rosafarbene Kaffeemaschine, frisches Filterpapier und eine Dose Prodomo. Eine Tüte mit gefälschten Speckstreifen für Hunde (wahrscheinlich sind sie aus Tiermehl hergestellt) liegt auf dem Kühlschrank bereit; daneben ein Netz mit Mandarinen. - Gil brauchte eine Fliege. Tagelang lauerte er in seinem Atelier, ein Stück Pappe in der Hand. Wenn eine Fliege in seinen Papierkorb geflogen wäre, hätte er diesen mit der Pappe abgedeckt und die Fliege wäre seine gewesen. Leider kam keine Fliege, schon gar nicht in den Papierkorb. They killed us in our tepee / An they cut our women down / they might have left some babies / cryin' on the ground (ausgespielter Viervierteltakt, ein Pinsel auf dem Becken setzt ein). Also rief Gil bei Yukako an und schilderte ihr sein Problem. Yukako hatte Fliegen genug. Sie versprach, ihm eine abzugeben. Wozu er die Fliege brauche? Die Antwort verstand sie nicht. But the firesticks / And the wagons come / And the night falls / On the setting sun -

Das Fangen war leicht: Tasse drüber, fertig. Zunächst versuchte Yukako, die Fliege so zu töten, dass sie unversehrt aussähe. Mit einer zerquetschten, so viel war klar, konnte Gil nichts anfangen. Yukako beschloss, der gefangenen Fliege den Sauerstoff zu entziehen, indem sie ein langes Streichholz so unter die Tasse hielt, dass die Fliege nicht hinaus konnte und hoffentlich kein Feuer abbekam. They massacred the buffalo / Kitty corner from the bank / Taxis run across my feet / And my eyes have turned to blanks . (Piano setzt mit monotonen Anschlägen ein) Die Flamme verlosch, der Sauerstoff war wohl weitgehend aufbraucht, aber die Fliege brummte alsbald wieder, also war sie zumindest nicht verbrannt. Yukako besorgte Gift. Das Insektenspray hatte sie sich ohnehin kaufen wollen; neben der unter der Tasse verwahrten gab es noch etliche andere Fliegen in ihren Räumen. Es gelang ihr, etwas Spray unter die Tasse zu bringen, ohne dass die Fliege entwischen konnte. Sie brummte weiter unterm Porzellan -

Yukako bekam allmählich ein schlechtes Gewissen. Sie war sich auch gar nicht mehr sicher, ob sie mit Gil von einem toten oder einem lebendigen Exemplar gesprochen hatte. Sie ließ die Fliege frei; schon bald torkelte sie wieder um eine der Lampen in Yukakos Atelier. Sie steuerte diese Lampe immer wieder an, um den Flug dann ruckweise unterbrechen, abzusacken, nahe an der Lampe vorbei oder unter ihr wegzufliegen, nach etwa einem halben Meter umzukehren und von neuem zu beginnen; es sah so aus, als erholte sie sich ganz gut. Yukako fing eine andere, überführte sie von der Tasse in einen Karton, gab ihr etwas zu Fressen (Zuckerwasser auf Watte) und rief bei der Post an, um herauszufinden, wie lange die Sendung unterwegs sein würde . In my little box / At the top of the stairs / With my indian rug / And a pipe to share (Violinen setzen ein) -

Die Fliege ist mir umgefallen. Bin etwas zu hastig aufgestanden, an den Tisch gestoßen, musste dringend eine Camel rauchen, dabei ist es passiert. Die Fliege ist ein Kickstarter, hatte ich noch herausgefunden, sie springt mit ihrem mittleren Beinpaar in die Luft und wirft erst dann den Flügelmotor an. Würde sie schon am Boden mit dem Flügelschlag beginnen, stießen ihre langen Flügel an ihrer Startbahn an. Wahrscheinlich käme sie gar nicht in die Luft. So aber zieht sie surrend ihre Bahnen. 3 Zog. Zöge. I wish I was a trapper / I would give a thousand pelts / To sleep with Pocahontas / And find out how she felt (voll instrumentiert) und mir ist schwindlig, Wahnsinn, wie sich das auf leeren Magen anfühlt, erst Hunger und Espresso, dann die Camel, man kriegt weiche Knie, ja! Ja! Mein Saugen! Dein Glühen! Dein Gift! -

Yukako jedenfalls (auch sie raucht zuviel) war mit der Antwort des Postamts halbwegs einverstanden, also gab sie das Paket mit der Fliege an Gil auf, der sie zwei Tage später wohlbehalten in Empfang nahm, genauer gesagt, er hörte sie schon knattern im Karton und traute sich zunächst nicht, ihn zu öffnen. - Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was dann passierte. Yukakos selbstgemachte Zuckerwatte war längst leergesaugt. Die Fliege blieb keineswegs still im Karton sitzen, um sich bestaunen zu lassen, vielmehr flog sie wie wild umher, knallte gegen das Fenster und war einfach nicht zu bändigen -

Gil wollte die Fliege eigentlich nur malen, einen Mord hatte er nicht im Sinn. So versuchte er, sein Modell mit einer Angel zu fangen, ein Schaschlikstäbchen, daran ein feiner Faden, daran eine Erbse (mit unendlicher Geduld festgeknotet). Die Erbse wird in Fliegenleim getaucht, dann heißt es warten, bis die Fliege sich einfindet. Durch einen leichten Schwung des Stäbchens ließ Gil seine Erbse hin und her fliegen in der Hoffnung, sie werde sich darauf stürzen. Die Fliege interessierte sich nicht für Gils Erbse. Gil ging erst mal Kaffee trinken, seine Frau hatte Kuchen gebacken, Gäste kamen, später wurde ein bisschen gegessen, ein bisschen getrunken, ein bisschen gelacht und die Gäste gingen wieder. Dann fuhren Gil und seine Frau zur Biennale nach Venedig, besuchten ihrerseits Freunde in Solingen-Ohligs, kauften bei IKEA ein und gingen ins AQUA am Innenhafen. Als er in sein Atelier zurückkehrte, war alles ganz still. Er musste eine Weile nach der Fliege suchen, sie hatte ihm nicht den Gefallen getan, auf dem Arbeitstisch oder dem Fensterbrett zu sterben, aus der Heimat verpflanzt, das Klima in den Betriebsratsräumen mag Krankheitserreger bereitgehalten haben, denen sie nicht gewachsen war. In the mornin' / On the fields of green / In the homeland / We've never seen ( voll instrumentiert). Jetzt ist mir ein bisschen Asche zwischen die Tasten gefallen, gut, dass es kein Espresso war, ich habe frischen geholt, bin schon etwas zittrig -

Der Espresso wird von den Lippen am Tassenrand abgeholt, von der Zunge begrüßt, in der Mundhöhle eingeschlossen und folgt dann gleichsam einem Zungenschnippen, er sammelt sich beim Gaumen, selbst dann, wenn er viel zu heiß sein sollte, verharrt dort einen Moment, einen langen Moment! und gelangt nun durch einen unabänderlichen Schluck ins tiefere Innere, bleibt kurz ganz verschwunden und taucht im oberen Brustraum wieder auf, wird dort gefühlt, sich im Dunkeln verteilende Wärme, versickernd. Wenig später antwortet ein Gefühl, wiederum in den Knien und ein ähnliches im Kopf, es dreht sich, ich werde weich -

And maybe Marlon Brando / Will be there by the fire / We'll sit and talk about Hollywood / And the good things there for hire, Tupfrüssel, Saugnäpfe, sie, die da vor mir kniet, hat mit den Vorderfüßen geschmeckt, als sie noch schmeckte, nicht mir, sie selbst, Zucker, Espresso, whatever, ihre Füße sind nicht nur Saugnäpfe, sondern auch Vorkoster, unter den Haftläppchen warten Geschmackshaare. Deren Reizung löst das Hervorstoßen des Rüssels aus; sie wird von ihrer Nahrung gezwungen, sich daran festzusaugen; von Bienen gar ist bekannt, dass man ihnen indes den Hinterleib abschneiden kann, sie saugen weiter, laufen dabei aus, es gibt kein Erbarmen, Reiz ist Reiz, Camel ist Camel, und Pocahontas -

Ich werf' sie weg, jetzt gleich, aus dem Fenster, sie kommt mir gar nicht erst in den Aschenbecher, ich werde sie nicht weitergeben Like the Astrodome / And the first tepee - 

Marlon Brando, Pocahontas and me. Marlon Brando, Pocahontas and me - 

- - - Pocahontas (den Rest macht die Gitarre).  

 

Glossar

Yukako Ando , geboren 1972 in Osaka, Bildhauerin, ist Wilhelm-Lehmbruck-Stipendiatin in Duisburg

Gilles Deleuze und Félix Guattari versuchen, das Tier nicht-anthropormorph zu denken. Mit dem Begriff des Tier-Werdens entwickeln sie unter anderem mit Bezug auf Jakob von Uexkülls Streifzügen durch die Umwelten von Tieren und Menschen eine maschinistische Vorstellung der Wirkungen einzelner Affekte in individuierten Gefügen. Dieser Gedanke liegt dem vorangegangenen Essay zugrunde.

Johnny Cash, geboren 1932 in Kingsland, gestorben 2003 in Nashville. Die posthum veröffentlichte 5-CD-Box Unearthed gilt als sein musikalisches Vermächtnis; der Song Pocahontas leitet CD 2 ein: Trouble in Mind.

Gil Schacher, geboren 1965 in Tel Aviv, Bildhauer, war Wilhelm-Lehmbruck-Stipendiat in Duisburg.

Pocahontas , geboren um 1595 in Virginia, gestorben 1617 in London an einer Grippeinfektion, war die Tochter des Indianerhäuptlings Powhatan-Sachem und galt als Mittlerin zwischen den Stämmen der Algonkin-Konföderation und den englischen Kolonisten. Der Siedler John Smith behauptete, die zwölfjährige Pocahontas habe sich in ihn verliebt, habe ihm das Leben gerettet, als ihr Vater ihn töten wollte. Später wurde sie mit dem Engländer John Rolfe verheiratet.

Jakob von Uexküll, geboren 1864 in Estland, gestorben 1944 auf Capri, war als Zoologe um die Aufgabe einer anthropozentrischen Perspektive bei der Erforschung der Umwelten von Tieren bemüht.

 

Literatur

•  Giorgio Agamben. Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt 2003.

•  Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kaptalismus und Schizophrenie I, Frankfurt 1977.

•  Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1997.

•  Jakob von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen/ Bedeutungslehre, Hamburg 1956.

•  Winkler, Tanja: Die Stubenfliege - das verkannte Genie (WDR, 25. 5. 1999), www.quarks.de/insekten/02.htm.

 

1. Gleichgewichtsorgan der Stubenfliege, auch Schwingkölbchen genannt.

2. Im Folgenden stehen kursiv gesetzte Zitate ohne Fußnote für die Stimme Johnny Cashs.

3. ZDF (Quelle)